Es ist Robert Lebel als grosse Weitsicht zuzuschreiben, dass er bereits 1959 in seinen Werkkatalog zu Duchamp die drei in den 1940er Jahren unter Leitung von Duchamp entstandenen Schaufenster aufnahm (1). Ein viertes entstand 1960--ganz passend--anlässlich der Veröffentlichung von Lebels Monographie. Gleichwohl steht eine ausführliche Auseinandersetzung, wie sie vielen anderen vermeintlich marginalen Werken Marcel Duchamps besonders seit den 1990er Jahren zuteil geworden ist, bezüglich dieser Arbeiten noch am Anfang (2). Ein Blick auf die stetig wachsende Duchamp-Literatur lässt vermuten, dass dieser Zustand nicht sehr viel länger anhalten wird. In den folgenden Ausführungen wird versucht, anhand einiger speziell auf Schaufenster bezogener Aussagen Duchamps selbst und anhand der Analyse der insgesamt vier Schaufenster, die unter Anleitung Duchamps entstanden sind, ein genaueres Verständnis davon zu erlangen, warum sich dieser oftmals in der Kunstgeschichtsschreibung als elitär verstandene Künstler einem scheinbar so profanen Medium widmete. Als erste fruchtbare Periode in Duchamps Werk werden allgemein die Jahre 1911 bis 1913 angesehen. Damals entstanden die letzten Gemälde, die ersten Ideen zum Grossen Glas und eine Reihe Notizen, die teilweise erst in Bezug auf spätere Werke Bedeutung erlangen würden. Für das Jahr 1913 ist überliefert, Duchamp sei bei einem Spaziergang durch Rouen beim Blick in das Schaufenster des Konfektionärs Gamelin auf eine Schokoladenmühle aufmerksam geworden. Das Schaufenster ist in einem Stich überliefert (Abb. 1) (3). Rückblickend sagte Duchamp von der Entdeckung der Schokoladenmühle: "Das war tatsächlich ein sehr wichtiger Moment in meinem Leben. Ich musste damals grundlegende Entscheidungen treffen" (4). Mit dem Motiv der Schokoladenmühle verband Duchamp seine stilistische Loslösung vom Kubismus und eine Hinwendung zu "architektonischer, trockener Ausführung", einer Methode, die Hand-Schrift des Künstlers ausschliessen sollte (5). Vielleicht war dies der Moment, als Duchamp beschloss, er wolle lieber "Fenstermacher" (Fenêtrier) als Maler sein (6). Die Begegnung mit der Schokoladenmühle im Schaufenster war darüber hinaus von Bedeutung für den Künstler, weil sie ihn veranlasste, dieses Gerät als ein zentrales Motiv in sein erstes Hauptwerk, das Grosse Glas (1915-23), aufzunehmen (Abb. 2). Dort erhielt die Schokoladenmühle den Platz in der Mitte der unteren Scheibe neben den Junggesellen. In gewisser Weise ist sie also zurück in ein Schau-Fenster überführt worden, nachdem Duchamp sie zunächst aus dem Geschäftskontext gelöst hatte. In ihrer immer noch lesenswerten Analyse von Etant Donnés (1946-1966), Duchamps zweitem Hauptwerk, hatten bereits 1969 Anne d'Harnoncourt und Walter Hopps bemerkt:
Die Geschichte
des Motivs der Schokoladenmühle unterstreicht die Deutung des Grossen
Glases als Schaufenster, als Projektionsfläche von Waren und Gegenständen
'dahinter' (8)
Duchamp selbst trug den kommerziellen Zusammenhang an die Schokoladenmühle
wieder heran, indem er in seinen dem Glas zugesellten Notizen,
der Grünen Schachtel, Bezug auf sie nahm. Dort sprach er zunächst
die erotischen Aspekte an, die mit dem Rotieren und dem Genussmittel
verbunden waren ("der Junggeselle zerreibt seine Schokolade selber").
Sowohl dem Mechanismus der Mühle, als auch der Betrachtung von Schaufensterauslagen
wird damit eine mögliche auto-erotische Dimension zugeschrieben. Zudem
beschreibt Duchamp die Mühle auch als Ware: "kommerzielle Formel,
Fabrikmarke, kommerzielles Schlagwort wie eine Reklame auf ein kleines,
bunt gefärbtes Glanzpapier geschrieben ( Auf das Jahr der Entstehung von Zeichnung und Gemälde zur Schokoladenmühle, 1913, hat Duchamp auch eine Notiz datiert, die Bezug nahm auf Schaufenster und etwas mehr über die Vorstellungen verrät, die Duchamp damit verband:
Diese Stelle wird in der Literatur zu Duchamp häufig zitiert, meist jedoch metaphorisch ausgedeutet oder auf das Grosse Glas bezogen (11). Eine kurze Besprechung des Textes für sich genommen scheint daher sinnvoll, um etwas über Duchamps frühe Haltung zu Schaufenstern herauszufinden. Die Metaphorik des Textes war--das ist bisher unbemerkt geblieben--die einer Gerichtsverhandlung. Der Passant vor dem Schaufenster wurde nicht als passiver Beobachter beschrieben, sondern zugleich als Angeklagter, Anwalt, Richter und Verurteilter in einem juristischen Verfahren. Er wurde ins Verhör genommen, musste Beweise liefern, seine eigene Verurteilung aussprechen, eine Strafe auf sich nehmen. Das Schaufenster war zugleich Ankläger (Verhör), Beweismaterial (äussere Welt), Anlass des Verbrechens (Verlangen), Opfer (Koitus durch eine Glasscheibe) und Strafmittel (Gewissensbisse). Die Art des Vergehens schien sexueller Art zu sein, zugleich im Geschlechtsakt mit den Waren sowie in der Exhibition desselben zu bestehen. Das Schaufenster befreite den Passanten von der Pflicht, den Geschlechtsakt verbergen zu müssen. Es lud ihn zu offenem Verkehr ein, forderte ihn geradezu zu gewaltsamem Eindringen auf. Das Gesetz, auf den dieser Prozess sich stützte, so muss der Leser schliessen, deutete sich in einer Moral an, die unterschwellig mitschwang, die aber gerade durch den ersten Satz explizit "in Frage" gestellt wurde, und im letzten (quod erat demonstrandum) nach einer noch ausstehenden Begründung verlangte. Die Frage, die Schaufenster für Duchamp aufwarfen, lautete, wie diese Moral zu rechtfertigen sei, die Sexualität und auch das "Lecken an den Schaufenstern" (lécher les vitrines, so der französische Ausdruck für 'Schaufensterbummeln') zum Vergehen machte. Konnte die Begierde, die durch eine erotisch aufgeladene Ausstellung beim Betrachter ausgelöst wird--sei es im Schaufenster, sei es durch eine attraktive Frau, oder womöglich auch durch Kunst - verurteilt werden? Gerade die Ubiquität dieser Phänomene macht eine abfällige Moral fast absurd. Wenn Duchamp das Schaufenster als Metapher für erotisches Begehren verwendete, so betonte er damit die Allgegenwärtigkeit dieses Affekts: Er kann durch jeden Menschen und jedes Objekt hervorgerufen werden. Eine Übertragung von Duchamps Szenario auf das Konsumverhalten angesichts von Warenauslagen liegt nahe. Herbert Molderings hat diesen Aspekt durch Analogie zu Walter Benjamin zugespitzt so formuliert: "Auch Duchamp sprach nicht zu den Waren, aber die Waren hatten begonnen, zu ihm zu sprechen" (12). In Duchamps Text wird der Passant angesichts der Waren hinter der Scheibe von dem Verlangen überfallen, diese zu besitzen und zu erwerben. Kaum hat der den Kauf-Akt vollzogen, überkommt ihn Reue. Doch selbst soweit diese Auslegung in Duchamps Sinn gewesen sein mag, unterliegt auch sie seinen Bedenken gegenüber landläufigen Moralvorstellungen. Duchamp war kein Moralist. Seine eigene Skepsis äusserte er nicht als Anklage, sondern wie in dem Schaufenster-Text von 1913 durch subtiles Infragestellen. Die Beispiele der von ihm gestalteten oder mitgestalteten Schaufenster belegen, dass seine Sichtweise auf Schaufenster sich nicht auf die Fragen nach Schuld, Verführung, Sühne beschränkte (Fragen, die sowohl auf Sexualität als auch auf Konsum angewendet werden können). Die 'Befragung der Schaufenster' durch Duchamp gestaltete sich vielschichtiger. Eine erste Berührung mit der Gestaltung einer Ladenfront hatte Duchamp noch in Paris gehabt. Bei dem 1937 erteilten Auftrag für die Tür von Bretons Galerie Gradiva handelte es sich, wie bei allen späteren Schaufensteraufträgen, um einen Freundschaftsdienst Duchamps. Dies bedeutete jedoch keineswegs, dass er den Wünschen oder Vorstellungen seiner Freunde entsprach, auch wenn er ihnen auf den ersten Blick oftmals entgegenkam. Die Tür für die Galerie Gradiva wies diese künstlerische Autonomie auf, die Duchamp sich nicht nur für die 'wichtigen' Werke vorbehielt. Photographien der Tür zeigen eine Öffnung in Form einer Silhouette zweier eng zusammenstehender Personen (Abb. 3 und 4). Antje von Graevenitz hat diese Öffnung als Initiations-Passage gedeutet, mit der Besucher den Heilungsprozess von Jensens Protagonisten nachvollziehen solle (13). Breton selbst schrieb in Bezug auf den Namen 'Gradiva', er bedeute auch die, welche "die Schönheit von morgen [sehe], welche den meisten Menschen noch verborgen" bliebe (14). Das Eintreten in die Galerie, in der natürlich Kunst von Surrealisten ausgestellt war, sollte nach Bretons Vorstellung den Besucher dieser Schönheit näher bringen und - wie in Jensens Geschichte - einen Beitrag zum Aufdecken des seelisch Verborgenen beim Betrachter leisten. Es gibt einige formale Hinweise, dass Duchamp mit seiner Tür andere Absichten verfolgte. Die in die Scheibe geschnittene Silhouette deutet zwei Personen an, wobei die grössere die kleinere zu dominieren, fast zu erdrücken scheint. Die beiden sind sehr nah aneinander gerückt, wobei es so aussieht, als lege die grössere der kleineren einen Arm um die Schulter und schaue die kleinere Figur an, die den Kopf etwas wegneigt (15). Wenn es sich hier also um ein Liebespaar handelte, dann stand das ungleiche Machtverhältnis ganz eindeutig im Vordergrund, und die Nähe der beiden, die in der Literatur (und vermutlich von Breton selbst) oft als Innigkeit gedeutet worden ist, war bei Duchamp eher eine Betonung dieses Missverhältnisses. Duchamp unterlief damit Bretons romantische Interpretation (ohne ihm offen zu widersprechen) und blieb zugleich näher an der Geschichte Jensens, denn hier unterwarf der Protagonist die geliebte Frau seinen Vorstellungen, liess sie zu einem Kunstobjekt (dem Relief) werden. Polemisch könnte man behaupten, gleiches geschehe in einer Galerie mit Kunst. Sie wird einem Massstab ausserhalb ihrer selbst, dem kommerziellen, unterworfen; sie wird die Gradiva im Sinne Duchamps: eine Ware. So gesehen war diese Tür als Warnung Duchamps an die Besucher zu verstehen, nicht die Sache selbst zu übersehen, nicht die Kunstwerke mit ihrem Warenwert zu verwechseln. 1943 übernahm der 'Fenstermacher' Duchamp in New York einen Auftrag für eine Schaufensterauslage (Abb. 5). Auch diesmal handelte es sich um einen Gefallen für einen Freund. Die von den Surrealisten bewunderte Schrift Der Anteil des Teufels von Denis de Rougemont war 1942 bei Brentano's aufgelegt worden und sollte nun in einem Schaufenster der Filiale an der Fifth Avenue ausgestellt werden. Da Rougemont selbst keine Idee für die Auslage hatte, wandte er sich an Breton, der vorschlug, Duchamp zu konsultieren. Wie aus dem Tagebuch von Rougemont hervorgeht, riet dieser, "die Decke aus offenen, an den Griffen herabhängenden Regenschirmen zu machen" (16). Auf der Photographie sind die Regenschirme allerdings nicht zu sehen. Duchamp vergrösserte das von seinen Freunden geäusserte Unverständnis dieser Idee dadurch, dass er kryptisch hinzufügte: "Die Frauen werden es verstehen" (17). Die Idee mit den Regenschirmen unter der Decke war Duchamp bereits früher gekommen. Er hatte sie für die Surrealisten-Retrospektive 1938 in Paris verwenden wollen anstelle der Kohlesäcke, die dann tatsächlich zum Einsatz kamen. Regenschirme waren nach dem Bericht von Henri-Pierre Roché angesichts der schwierigen Wirtschaftslage damals nicht aufzutreiben gewesen (18). Duchamp scheint jedoch bereits in Paris aus seiner Idee kein Geheimnis gemacht zu haben, denn Salvador Dalí benutzte im folgenden Jahr Regenschirme in dieser Weise in seinem Pavillon Dream of Venus auf der New Yorker Weltausstellung (19). Hatte Duchamp folglich gemeint, die modebewussten New Yorker Frauen, die 1939 in Scharen zu Dalís Pavillon geströmt waren, um das Werk des surrealistischen Modepapstes zu bewundern, würden sich daran erinnern können? So sie es taten, musste ihnen Duchamp als Plagiator von Dalís Idee erscheinen - eine ironische Verkehrung der tatsächlichen Schuldigkeiten. Für den Hintergrund des Schaufensters für Rougemonts Buch zeichnete Kurt Seligmann verantwortlich, der neben okkult anmutenden Graffiti auch die Tarotkarte XV abbildete, die ausser dem Bezug auf das Buch auch als Vorbote eines späteren Schaufensters (Lazy Hardware) gesehen werden kann, das ebenfalls unter der Ägide von Duchamp entstand. Ansonsten befanden sich noch zahlreiche exotische Skulpturen in der Auslage, die zwischen die ausgelegten Bücher gestellt waren. Mag sein, dass Breton die Abb.n in seinem New Yorker Lieblingsgeschäft, bei dem Antiquitätenhändler Julius Carlebach, entliehen hatte (20). Die Auslage zog trotz ihrer Exotik keine grössere Aufmerksamkeit auf sich (21). Keines der vier Schaufenster, an deren Erstellung Duchamp Teil hatte, fand in der Presse Erwähnung, obwohl es zumindest einmal zu einem kleinen Skandal kam. Dieser entzündete sich an dem berühmtesten der Schaufenster, an deren Gestaltung Duchamp beteiligt war. Dasselbe Buchgeschäft wie zuvor, Brentano's an der Fifth Avenue, ermöglichte 1945 eine Auslage für die Buchpräsentation von Bretons Schrift Arkanum 17. Das Geschäft sah sich jedoch aufgrund von (in der Überlieferung nicht spezifizierten) Protesten der Women's League bereits am ersten Tag der Installation gezwungen, die Auslage wieder zu entfernen, woraufhin sie in den Gotham Bookmart in eine nahe gelegene Querstrasse verlegt werden musste (Abb. 6) (22). Die Auslage, wie sie uns aus Photographien an ihrem zweiten Standort bekannt geworden ist, bestand aus verschiedenen Beiträgen. Duchamp hatte eine kopflose Schaufensterpuppe beigesteuert, die einen Wasserhahn am Bein hatte und in eine knappe Schürze gekleidet war. Auf einem Etikett wurde dies als Lazy Hardware (Träge Eisenwaren) betitelt. Von Duchamp stammte auch eine Flasche, die zuvor schon als Motiv für eine Titelseite der Surrealisten-Zeitschrift View gedient hatte (Abb. 7). Der von Breton und Duchamp hochgeschätzte junge Maler Roberto Matta Echaurren hatte ein surrealistisches Plakat mit dem Schriftzeile "arcane 17" angefertigt (Abb. 8). Matta hatte zudem für Bretons Buch vier Tarotkarten entworfen, die im Schaufenster präsentiert wurden, indem mehrere Exemplare des Buches an den entsprechenden Stellen aufgeschlagen wurden (Abb. 9). Schliesslich wurde das Cover des Buches samt eines Portraits des Autors sowie einer Schreibfeder in einem seesternförmigen Tintenfass zu Füssen des Mannequins gezeigt. Das Schaufenster ist in mindestens vier verschiedenen Aufnahmen festgehalten worden, von Duchamp bei der Arbeit an dem Mannequin gibt es eine (Abb. 10, 11-12) (23). >>Next page 1 2 Notes
Figs.
2-7, 10-12
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