Von Readymades und "Asstricks" Forschungsergebnisse
des Art Science Research Laboratory von
Thomas Girst
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Das von der Künstlerin Rhonda Roland Shearer und dem Harvardprofessor Stephen Jay Gould 1998 begründete, gemeinnützige Art Science Research Laboratory (ASRL), New York, verfügt über die weltweit grösste Privatsammlung der Werke Marcel Duchamps. Ausgehend von seinen Notizen und Interviews, Duchamps Lektüre des französischen Mathematikers Henri Poincaré (1)sowie von der Wissenschaftstheoretie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und Überlegungen zur vierten Dimension, versuchen Shearer und Gould unter anderem die Non-Existenz der meist nur noch auf alten Photographien erhaltenen, originalen Readymades als Massenprodukte nachzuweisen, (2) Objekte, die sich erheblich von den späteren, allgemein bekannten Editionen unterscheiden. (3) Neben den Werken Marcel Duchamps liegt daher der Ausstellungs- und Sammelschwerpunkt von ASRL bei der Präsentation (im Sinne einer prä-musealen Wunderkammer) bzw. Archivierung von Firmen- und Versandhauskatalogen, Pissoirs, Kleiderhaken Schneeschaufeln, Vogelkäfigen und vielen weiteren Gebrauchsgegenständen, sofern diese Ähnlichkeit mit Duchamps Readymades aufweisen und in der Zeit ihrer Entstehung hergestellt wurden. Ein rein kunsttheoretischer Ansatz wird dabei durch die intensive Arbeit am Objekt erweitert, oft unter Miteinbeziehung von bzw. der Kollaboration mit u.a. Physikern, Mathematikern, Dermatologen und Ex-Fotospezialisten des CIA. Im ASRL arbeiten Kunsthistoriker Seite an Seite mit 3D-Graphikern und Webdesignern, die ihrerseits sowohl deren Ergebnisse graphisch umsetzen und online publizieren helfen als auch Duchamps Werke im Computer einer genauen Analyse unterziehen. Seit Dezember 1999 erscheint mit ASRLs non-profit "Tout-Fait: The Marcel Duchamp Studies Online Journal"(www.toutfait.com) die erste interdisziplinäre Multimedia-Zeitschrift zu einem Künstler der Moderne und seinem Umfeld. Neben Artikeln von international renommierten Kunsthistorikern und Duchampforschern sowie Studenten und Künstlern werden schwer zugängliche Quellentexte veröffentlicht, bedeutende Sammlungen vorgestellt sowie auf aktuelle Ereignisse verwiesen. In den ersten vier Ausgaben publizierte "Tout-Fait" weit über 100 Beitrage, ausschliesslich Erstveröffentlichungen und viele davon zweisprachig. Im folgenden werden neue Forschungsergebnisse zu drei in der Schweriner Sammlung befindlichen Werke Duchamps vorgestellt.
Kamm, 1916/1964
"3 oder 4 Höhentropfen haben nichts zu tun mit der Wildheit – Feb. 17 1916 11 Uhr vormittags". (4) Die Inschrift auf dem Rücken des Kamms von 1916 (Abb. 1) gibt das genaue Datum und die Uhrzeit an, so wie es Duchamp in einer Notiz über die Readymades in der "Grünen Schachtel" von 1934 festgelegt hat. "Datum, Stunde, Minute, natürlich auf dem Readymade eintragen, als Information". (5) Was Duchamp hier beabsichtigt, ist "eine Art Rendezvous": Um jegliches ästhetische Urteil bei der Auswahl zu vermeiden, beabsichtigt er, die Readymades zu "präzisieren", indem er sie "vormerkt". Was für ein Gegenstand auch immer sich "mit genügender Frist" (6) zur vorgegebenen Zeit in Duchamps Nähe einfindet, wird zum Readymade erklärt und dementsprechend beschriftet. Keine zwei Wochen zuvor, am 6. Februar 1916, schickt Duchamp einen wenig Sinn ergebenden, auf vier Postkarten getippten Schreibmaschinentext an das Sammlerehepaar Walter und Louise Arensberg. Auf der Rückseite hat er den Titel vermerkt: "Rendezvous vom Sonntag 6. Februar 1916 um 1 Uhr ¾ Nachmittags". "Kamm" wie "Rendezvous", in ihrer Entstehung nur elf Tage auseinanderliegend, scheinen sich penibel genau an Duchamps zwischen 1911-1915 entstandene Readymade-Notiz zu halten. Von den 100 Fragen, die Serge Stauffer von Zürich aus am 24. Juli 1960 an Marcel Duchamp im spanischen Cadaques schickt, befasst sich Frage 39 mit dem Schreibmaschinentext für die Arensbergs. Stauffer muss davon ausgehen, dass es sich hier um ein Readymade handelt: "Auf welche Art haben Sie den Text für 'Rendezvous vom 6. Februar 1916' gefunden?" (7) Die Antwort Duchamps vom 6. August 1960 fällt so knapp wie überraschend aus: "Ich habe ihn nicht gefunden – sondern geflissentlich gemacht während mehrerer Wochen" (8) . Dem gegenüber
wird Duchamps "Kamm" auch weit mehr als 80 Jahre nach seiner
Entstehung als reines Readymade klassifiziert
(9) , dass einzige, das
im Original erhalten blieb und im Philadelphia Museum of Art ausgestellt
ist. Dieser Ur-Kamm unterscheidet sich erheblich – wenn auch
nicht auf den ersten Blick – von der Reproduktion aus dem Jahr 1964
(Abb. 2). Denn vergleicht man die Anzahl der Zähne des Kamms
von 1916 mit den im Rahmen der Readymade-Edition von Marcel Duchamp
und dem Mailänder Galeristen Arturo Schwarz entstandenen Kämmen, so
stellt man fest, das ersterer über 55 bzw. 57 Zähne verfügt, die Edition
dagegen nur über 53 bzw. 55 Zähne
(10) . "Die Kämme ordnen
nach der Anzahl ihrer Zähne"
(11) , schrieb Marcel Duchamp
in seinen 1934 publizierten Notizen in der "Grünen Schachtel".
Auf weiteren, erst posthum veröffentlichten Zetteln, weist er in seinen
Bemerkungen zum Inframince mehrmals auf die feinen Unterschiede
von nur scheinbar identisch aussehenden Objekten hin, selbst dann, wenn
diese aus der gleichen Gussform stammen
(12) . Was der Stahlkamm
von 1916 und die Edition von 1964 tatsächlich gemeinsam haben, das ist
neben dem Material die Inschrift "Chas F. Bingler / 166 – 6th Ave.
N.Y." sowie zwei zu den Aussenrändern parallel liegende Aussparungen
auf der Breitseite des Objekts. Die beiden kreisrunden Löcher weisen
das Readymade aber als Assisted Readymade bzw. Semi-Readymade aus, da
es Teil eines grösseren Gebrauchsgegenstands gewesen sein muss. Entweder
die Löcher dienten Schrauben, die den Kamm über eine Metallschiene an
einem Holzgriff befestigten
(13) (Abb. 3) oder
sie waren für zwei dünne Metallstäbe vorgesehen, die ihrerseits zwischen
drei und sechs gleichartige Kämme zusammenhielten und ebenfalls in einen
Griff mündeten (Abb.4a und 4b). In beiden Fällen kann man kaum
mehr von einem Hundekamm sprechen (14)
. In den damaligen Warenhauskatalogen wurden diese Modelle unter
"Cattle Comb" bzw. "Curry Comb" geführt und in ihrer
Nutzung ausschliesslich zum Striegeln von Pferden oder zum Auskämmen
von Rinderfell angeboten.
Bezüglich der Inschrift des Kamms, "Chas F. Bingler / 166 – 6th Ave. N.Y.", lässt sich feststellen, dass bis 1915 unter der angegebenen Adresse tatsächlich ein gleichnamiger Messerschmied ("Cutler") in Manhattan zu finden war, der uns ein Jahr später laut New Yorker Telefonbuch als Charles F. Bingler, "Cutler and Grinder, Importer and Manufacturer of Cutlery" wieder begegnet, mit nur leicht veränderter Adresse: 182, 6th Avenue. (15) Das Problem ist nur, dass Melvin J. Bingler, einziger Sohn von Chas F. Bingler, ganz und gar nicht davon ausgeht, dass das Geschäft seines Vaters jemals Kämme herstellen liess. (16) Bingler war vor allem für seine Rasiermesser bekannt (17) und stellte ausserdem Scheren, Messer und Schreinerwerkzeug her. Von Chas F. Bingler konnten Privatkunden zudem jederzeit Produkte individuell anfertigen lassen, was sich sowohl der überschaubaren Grösse des Betriebes sowie der Tatsache, dass Produkte nie in allzu hoher Anzahl hergestellt wurden, verdankt. James Joyce soll im Scherz über Duchamps "Kamm" gesagt haben, dass seine dicken Zähne "Finnegans Wake", den hochkomplizierten Nachtroman des irischen Schriftstellers, zu entwirren vermögen. (18) Die vielen Fragen, die der Kamm von 1916 bei genauerem Hinsehen aufwirft, können bei allen verbleibenden Ungereimtheiten zumindest determinieren, auf welche Weise und mit wieviel Vorsicht bei der Untersuchung weiterer Objekte aus Duchamp's Oeuvre vorgegangen werden sollte. (19) >>Next
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Notes
Abb.
1, 2
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