Vom modernen Blickpunkt
aus, sind Astrologie und Alchemie nur im Aberglauben befangene Vorformen
unseres wissenschaftlichen Denkens. Dem Historiker erscheinen sie als
Teilbereiche einer einheitlichen oder ganzheitlichen Weltschau. Überraschenderweise
ist in jüngster Zeit eine ästhetisierende Rückkehr in die Zeit der "Kunst-
und Wunderkammem" der frühen Neuzeit festzustellen. Die mit großem Aufwand
(ca. 15 Millionen $) in Szene gesetzte Ausstellung mit dem mythischen
Titel "7 Hügel" im Gropiusbau in Berlin spielt mit dem Gedanken einer
enzyklopädischen Summe, in der das Wissen unserer Zeit versammelt ist.
Zwar setzt man dabei den klaren Verstand aufs Spiel, gewinnt dafür aber
einen künstlerischen Ansatz, den Kosmos im Kleinen wie im Großen zu
verstehen. Angesichts der Euphorie der Naturwissenschaftler, gleichzeitig
das Genom und die Elementarteilchen entschlüsselt zu haben, sprechen
sogar Nobelpreisträger von einer neuen Mystik. Die vier Buchstaben der
DNA seien nicht mehr als eine Neuformulierung der alten vier Elemente
Feuer, Wasser, Erde, Luft. Auch sei es kein Zufall, dass es im Standardmodell
der Elementarteilchen 12 Fermionen gebe. Vielleicht kann der forschende
Mensch immer nur neue Varianten alter Vorurteile projizieren, deren
gemeinsame Struktur in bestimmten Zahlen liegen.
Das Horoskop ist das Bild der Planeten in der Ekliptik. Es ist eine
Uhr, die sich nicht wie unsere normale Zeit auf den Sonnenstand beschränkt,
sondern auch auf die anderen Himmelskörper vom sonnennahen Merkur bis
zum weit entfernten Pluto Bezug nimmt. Das ist astronomischer Tatbestand,
erst mit dem Glauben an eine mögliche Deutung dieses sich je nach Zeit
und Ort verändernden Bildes, verlassen wir sicheres Terrain und begeben
uns in den Aberglauben historischer Traditionen.
Die 12 Tierkreiszeichen sind die projizierten Kombinationen aus den
drei Bereichen (Körper, Seele, Geist) und den vier Elementen, die man
seit C.G.Jung auch als vier Funktionen (Empfinden, Fühlen, Denken, Wille)
verstehen kann. Dabei gibt es immer Interpretationsmöglichkeiten, weil
die Begriffe nicht eindeutig sind und in verschiedenen Sprachen divergieren.
So kann man in der Systematik des Wiener Religionsphilosophen Arnold
Keyserling die Zeichen wie folgt bezeichnen: Widder: Seele-Wille, Stier:
Körper-Empfinden, Zwillinge: Geist-Denken, Krebs: Seele-Fühlen, Löwe:
Körper-Wille, Jungfrau: GeistEmpfinden, Waage: Seele-Denken, Skorpion:
Körper-Fühlen, Schütze: Geist-Wille, Steinbock: Seele-Empfinden, Wassermann:
Körper-Denken, Fische: Geist-Fühlen.
Die Planeten bilden innerhalb dieses kosmischen Menschen eine Struktur,
die als eine Art Grammatik aufgefasst werden kann. Der Jupiter wäre
das "Und" der Sprache, das alles miteinander verbindet, die Venus das
Substantiv, das die Objektwelt fixiert, usw. Jeder Mensch hat alle Komponenten
eines derartig systematischen Aufbaus, einer Art Ontologie in sich,
aber auf unterschiedliche Weise. Den ethischen Momenten dieser Sicht
wollen wir hier nicht weiter folgen. Ein Horoskop kann in diesem Sinn
alles Mögliche sein, von der charakteriologischen Analyse bis zur Darstellung
einer Lebensbahn.
Es macht wenig Sinn, Duchamps Horoskop aus unserer Kenntnis heute retroprophetisch
als potentielles Leben zu deuten. Wir würden uns dabei ständig durch
seine Lebensdaten eines Besseren belehren lassen. Diese Sicht a posteriori
wäre nicht sehr spannend. Was man aber einmal versuchen kann, ist den
leicht errechnenden Ablauf des Lebens nachzuzeichnen, was herausragende
Daten anlangt. Was war wirklich für ihn wichtig? Und wie erklärt sich
seine Fähigkeit, die Welt über sein Werk im Unklaren zu lassen? Jedes
(mit römischen Ziffern bezeichnete) "Haus", beginnend vom Aszendenten
links, dauert sieben Jahre. D.h. man bewegt sich durch sein eigenes
Horoskop zunächst unter dem Horizont, bis man am Beginn des 7. Hauses
(am Deszendenten rechts) aus der "Nacht" aufsteigt und mit 42 Jahren
(6x7) in die Öffentlichkeit tritt. Die einzelnen Häuser richten sich
in ihrer Bedeutung nach dem jeweiligen Entwicklungsstand, sind aber
auch das ganze Leben ständig präsent (vergleichbar dem genetischen Code,
an den man heute eher glaubt. Man mag ihn zwar entziffert haben, aber
versteht ihn noch nicht). Ein Horoskop kann sichtbar machen, dass versäumte
Gelegenheiten kaum wiederholbar sind, da das Leben weitergeht. Man sollte
z.B. nicht im 9. Haus (im Alter jenseits der 63) kleine Kinder (5. Haus)
aufziehen. Man ist nicht immer gleich jung oder alt, aber jeder hat
die Schwerpunkte seiner Entwicklung woanders, sodass man nicht einmal
solche Feststellungen generalisieren sollte.
Im folgenden beschränken wir uns auf die angedeuteten Daten. Die damit
verbundene Deutung verbleibt im Allgemeinen. Jeder astrologisch Interessierte
kann das weiterspinnen. Demnach bedeutet der Planet Venus im 10. Haus
in der Jungfrau zwar im Rahmen eines bestimmten Spektrums vielerlei.
Das wird aber hier reduziert auf den Ort, nämlich 19.43 Grad, d.h. für
Duchamp auf das Jahr 1953. Wir gehen auf alle Planeten in dieser Weise
ein, wobei wir auch den Ort genau gegenüber, d.h. um 180 Grad verschoben
mitberücksichtigen, in diesem Fall 1911. Der genau gegenüberliegende
Punkt stellt im Horoskop ein zum eigenen Standort komplementäres Ziel
dar.
Die einzelnen astrologischen Traditionen unterscheiden sich beträchtlich,
was die Toleranz der Aspekte anlangt. Das sind die Beziehungen zwischen
den Planeten untereinander. Man kann sie mit den Beziehungen zwischen
Tönen vergleichen, die zusammen eine mehr oder weniger harmonische Musik
bilden. Hier wird generell zwischen den Planeten eine Toleranz von 10
Grad, zwischen einem Planeten und der Sonne bzw. dem Mond von 12.30,
und zwischen Sonne und Mond von 15 Grad angenommen. Das mag willkürlich
erscheinen und unterscheidet sich von anderen Systemen. Opposition und
Konjunktion (0 bzw. 180 Grad + Toleranz, Gelb) sind durch den Willen
zu bewältigende Impulse, Quadrat (90 Grad, Rot) ist Fühlen, Sextil (60,
120 Grad, Grün) = Empfinden, Halbsextil und Trigon (30, 150 Grad, Blau)
= Denken. Grün wird traditionellerweise als positiv, Rot als negativ
interpretiert. Es kann auch charakteristisch sein, wenn zwei Planeten
durch keinen Aspekt miteinander verbunden sind.
Im Folgenden wird das Stenogramm einer Deutung im Überblick gegeben
und daran die auf Lebensdaten bezogenen Planetenstände angegeben. Alle
Planeten befinden sich über dem Horizont, das ist zwar kennzeichnend
für ein öffentliches Leben, aber auch für eine späte Entwicklung dieses
Ruhmes. Üblicherweise sagt man, dass ein das Zentrum nicht umschließendes
Horoskop exzentrisch sei. Schwerpunkte sind das 7. Haus (Gemeinschaft,
Gesellschaft) mit Neptun im Stier und Pluto in den Zwillingen, sowie
das 9. Haus (Reisen, Ideen) mit Saturn im Krebs, Sonne im Löwen und
Merkur im Löwen, und das 11. Haus (Freundschaften mit Notablen, Werke)
mit Uranus und Jupiter in der Waage. Von den Aspekten her konzentriert
sich das Meiste im 9. Haus. Von daher handelt es sich um einen von (Reisen
und) Ideen bestimmten Menschen und weniger um einen Künstler im traditionellen
Sinn - das 2. Haus (Kunst, Besitz) ist leer, auch im Stier ist nur Neptun,
d.h. die Bekanntschaften. Die Venus im 10. Haus in der Jungfrau ist
nur mit 4 anderen Planeten durch Aspekte verbunden. Sie steht zwar an
prominenter Stelle im Haus der Öffentlichkeit und hat auch keinen negativen
Aspekt. Da Venus die gestalterische Kraft (und mythologisch die Liebesgöttin)
ist, könnte man mit ihr als erstem Planeten beginnen, nach den zwei
entsprechenden Zeitpunkten zu fragen.
Venus in der Jungfrau im 10. Haus: 1911 und 1953/54
Duchamp malt in diesem Jahr in Blainville seine wichtigsten Bilder (Familie,
Akte und Schach). Das langfristige Projekt betrifft den Übergang von
der "Jungfrau" zur "Neuvermählten". Den Hintergrund oder Rahmen dieser
Jahre (Ziel gegenüber) bietet das Zeichen der Jungfrau. Als mit der
Venus eintretendes, prägendes Ereignis muss die Hochzeit seiner Lieblingsschwester
Suzanne im August angenommen werden. Die Unerreichbarkeit der "Braut"
wird später mit dem "Großen Glas" zum Thema. Fast genau gegenüber, d.h.
42 Jahre später, im X. Haus, heiratet der 66jährige im Januar 1954 Teeny
Matisse-Sattler. Von den Aspekten her ein harmonisches Ereignis. MD
versteht es trotzdem, sich öffentlich (10. Haus) als (männliche) Jungfrau,
als Junggeselle zu gestalten (Venus). Dass MD 1911 Vater eines Mädchens
geworden war, wurde ihm erst Jahre später zufällig bewußt.
Mond im Skorpion im 12. Haus: 1929
Das Weibliche (die Mutter) wird generell vom Mond repräsentiert. Der
Mond steht auch für das Wechselhafte und sich (im 12. Haus) in der Einsamkeit
Regenerierende. Wie man an den zwei Quadraten ins 9. Haus zu Merkur
und Sonne sieht, bereitete diese schillernde Isoliertheit dem selbstbewußten
Sprechen und dem Selbsturteil einige Probleme. Äußerlich im Lebensablauf
wurde das im 41. Lebensjahr (1929) sichtbar. Dies betrifft eben nicht
seine eigene kurze Ehe mit Lydie Sarazin-Levassor, die im Jahr zuvor
kurzfristig wieder geschieden wurde. Henry McBride stellte angesichts
der "fetten" und von ihrem Vater finanziell nur unzulänglich ausgestatteten
Braut die Frage, warum MD nicht gleich Kathy Dreier geheiratet habe.
Zum entscheidenden Zeitpunkt (1929) traf sich MD mit dieser und ihrer
Freundin Mrs. Thayer und bereiste mit ihnen Spanien und Deutschland.
Dreier sah in MD "another side of me". Sie war wohl die wichtigste und
von den vielen Interpreten unterschätzteste Frau in seinem Leben, auch
wenn sie nicht alle die Ideen (Quadrate ins 9. Haus) ihres "adopted
son" begriffen hat. Die Opposition zum Neptun im 7. Haus legt die Vermutung
nahe, dass sich diese Freundschaft nicht mit seinen sonstigen öffentlichen
Bekanntschaften vertragen hat.
Neptun im Stier im 7. Haus: Ende 1931 / Anfang 32
Bis auf die erwähnte Neigung, seine Beziehungen zu Frauen im Dunkeln
zu lassen, hatte MD offensichtlich viele Bekannte (Neptun), die nicht
zuletzt (günstige Aspekte ins 9. Haus) für seine Reisen und Ideen förderlich
waren. In seinem Lebenslauf manifestierte sich dieses Talent offiziell,
als er gemeinsam mit Vitaly Halberstadt ein Schachbuch schreibt, dass
dann im Juni 1932 dreisprachig in Brüssel herauskommt. Diese Zusammenarbeit
muss für ihn wichtig gewesen sein, weil es auch der erste Planet ist,
den er im Horoskop erreicht (da die Häuser bis dahin leer sind und die
anderen erwähnten Planeten gegenüber standen).
Mars im Krebs im 8. Haus: 1940
Der Geburtsgebieter (der Regent des Aszendenten Skorpion) hat gute Aspekte
zu Venus und Mond, aber keinen zu Neptun. Neben der Sonne wird der Geburtsgebieter
oft als der wichtigste Planet in einem Horoskop angesehen. Initiative
als sublimierte Aggressivität, der Hang immer wieder nach den Wurzeln
(Krebs) zu suchen, muss hier als ein Prinzip angenommen werden. Das
in Richtung Uranus im 11. Haus zielende Quadrat gibt die Sehnsucht nach
einer intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Werk an, wofür nun
der Grundstein gelegt wird. MD beschließt 1940 seine Arbeit an seinem
Privatmuseum, seiner "Schachtel im Koffer". Ab 1941 wird MD in sieben
Serien die Exemplare der Edition nach und nach zusammenstellen und herausgeben.
Als mythologische Figur ist Mars naturgemäß der Kriegsgott. Doch die
deutsche Besatzung von Arcachon, wohin sich MD mit Mary Reynolds, seiner
Schwester Suzanne, deren zweiten Mann Jean Crotti, Salvador Dalì und
dessen Frau Gala zurückgezogen haben, scheint ihn kaum zu stören.
Uranus in der Waage im 11. Haus: 1915/16 und 1957/58
MD hat ein ausgleichend (Waage) - intellektuell-dialektisches Verhältnis
(Uranus) zu Freunden (11. Haus) in der Gesellschaft. Die Zeit, in welcher
seine Persönlichkeit (Widder) - von 1913 bis 1922 - im Vordergrund steht,
ist durch die Readymades bestimmt. Als er 27jährig nach New York kommt,
schließt er mit den Arensbergs Freundschaft. Gegenüber, 42 Jahre später,
findet die Auseinandersetzung mit seinem Werk mit den Herausgebern seiner
Schriften George Heard Hamilton und Michel Sanouillet sowie in der Begegnung
mit seinem wichtigen Interpreten Robert Lebel statt.
Jupiter in der Waage im 11. Haus: 1921 und 1963
Der zweite Planet in diesem Haus des Lebenswerkes ist Jupiter. Er bezeichnet
die Fähigkeit der Synthese. Was fügt ein Werk eher zusammen als eine
große Personalaustellung? MD ist schon 76 Jahre alt und jetzt erst wird
ihm in Pasadena diese Präsentation geboten. 42 Jahre früher, im Haus
der Meisterung (5.) seiner Persönlichkeit (Widder) führt MD die Synthese
ganz anders als in einer Akkumulierung des Werkes herbei. Er erschließt
sich in Rrose Selavy der weiblichen Seite seiner Persönlichkeit. Die
integrative Kraft des Jupiter kann sich auf sehr unterschiedliche Art
erweisen. Bemerkenswert ist hier die große Spannung zu den drei in Konjunktion
versammelten Planeten im 9. Haus, d.h. zu seinen Ideen.
Saturn, Sonne, Merkur im 9. Haus in Krebs und Löwe: 1943-1946
Hier liegt ein großer emotionaler Konflikt vor. Saturn als Autorität,
Sonne als Wesen und Merkur als rhetorische Ökonomie bilden nicht nur
den Schwerpunkt des ganzen Horoskops, sozusagen die Kulmination aller
seiner Anstrengungen, sondern auch eine krisenhafte Konzentration. MD
wird nun allgemein als Autorität (Saturn) oder in seiner Meisterschaft
(Merkur und Sonne im Löwen) wahrgenommen. Er ist fast populär, jedenfalls
eine Legende. Nicht nur die Zeitschrift VIEW widmet ihm ein Heft, auch
auf der VOGUE erscheint das "Große Glas" als Staffage für eine Modeaufnahme.
Es gibt eine Ausstellung der drei Duchamp-Brüder usw. Die Quadrate von
hier zum Jupiter und zum Mond zeigen seine Sehnsucht in zweifacher Hinsicht
auf. Einerseits nach einer Synthese seines Werkes, die er durch die
Arbeit an den individuellen Ausgaben der "Schachtel im Koffer" verwirklicht;
andererseits nach der Erfüllung der weiblichen Seite und zwar in sexueller
Hinsicht (Mond im Skorpion) und in Einsamkeit (Mond im 12. Haus). Eine
wichtige Rolle spielt hier sicher seine Liaison mit der brasilianischen
Künstlerin und Botschafter-Gattin Maria Martins, der er einen persönlichen
"Koffer" widmet. Die darin befindliche Landschaft hat er mit Ejakulat
gemalt. Darin kann man auch die ironische Botschaft des sprichwörtlichen
Junggesellen sehen, der "seine Schokolade selber reibt". Die Spekulation
sei erlaubt, dass sich dergleichen auch 42 Jahre früher, gegenüber im
Horoskop, ereignet hat. Seine Arbeit wird von nun an umstrukturiert.
Er bezieht ein neues Atelier, das er für die nächsten 22 Jahre benützen
wird, d.h. bis zum Ende des Zeichens Waage. Von nun an wird er sich
in diesem kargen Atelier mit der Idee und Realisierung einer sexualisierten,
einsamen Frau (Mond im Skorpion im 12. Haus), mit "Etant donnes" befassen.
Das Modell für ihren Körper lieferte ebenfalls Maria Martins, die bald
nach Paris und in ihre Heimat verschwand. Sie wurde für MD in Erinnerung
an die ferne Mariée eine gebettete Maria.
Ein anderes Kapitel wäre die Zuordnung von Städten. Doch schwankt diese
je nach Astrologie-Schulen. Wir beschränken uns hier auf den Hinweis,
dass New York als Neptun- und Paris als Venus-Stadt mit den entsprechenden
Bedeutungen im 7. Und 10. Haus korrespondieren.
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